Diese Geschichte ist reine Fiktion. Ist nie so passiert und jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig.
Gleise
Während die feuchte Luft, welche den nahenden Winter ankündigte langsam unter die Mäntel kriecht und sich in den Haaren festsetzt, sitzt sie stumm und völlig reglos am Bahnhof. Ihre Augen starr auf einen Punkt jenseits der Schienen gerichtet. Auf ihren Knien eine altmodische Ledertasche, neben sich ein abgewetzter, speckiger Gitarrenkoffer. Mehr braucht sie nicht. Unzählige Minuten verharrt sie in dieser unnatürlich wirkenden Haltung, bis durch einen unsichtbaren Reiz plötzlich Bewegung in die Gestalt kommt und sie für einen kurzen Moment ihren Kopf am Gitarrenhals ausruht. Keine Sekunde später befindet sie sich wieder in ihrer Ausgangsposition und beobachtet den in der Zwischenzeit eingesetzten Regen.
Die rostigen Schienen des kleinen Provinzbahnhofs beginnen zu glänzen. Der Wind bläst den Regen unangenehm unter das Vordach. Obwohl ihr Gesicht vor Nässe und Kälte schon gerötet ist, macht sie keine Anstalten sich zu bewegen. Sie fasziniert ihn. Das hatte sie schon immer. Die braunen nach Zigarettenqualm und Apfel duftenden Haare. Das blasse Gesicht, die leicht geöffneten Lippen, die eigentlich nie lachten und die dunkelblauen Augen, die so tief waren, dass man sich darin zu verlieren drohte.
Langsam trat er einen Schritt aus der schützenden Dunkelheit, welche ihn seit geraumer Zeit umgab, hervor. Sein Gesicht tauchte aus dem Schatten des Hauses auf, hinter welchem er sich verborgen hatte. Seine Haut leuchtet schwach im fahlen Mondschein.
Automatisch fährt er sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Er ist nervös. Seine geröteten Augen blinzeln als das Licht der Neonröhre, welche den Bahnsteig erleuchtet, auf sein Angesicht trifft. Fast schon genüsslich beißt er sich auf die Unterlippe. Der Schmerz lenkt ihn ab. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Langsam bewegt er sich auf die puppenhaft wirkende Gestalt zu. Der
Bahnhof wirkt wie ausgestorben. Keine Menschenseele hat sich hier her verirrt.
Schritt für Schritt nähert er sich dem reglosen Geschöpf. Zwingt sich selbst zu keiner unüberlegten Handlung. Er muss sie aufhalten. Zugleich weiß er aber auch, dass sie gehen wird. Nichts und niemand kann sie aufhalten. Er zuckt zusammen als die Gummisohlen seiner Schuhe kurz quietschen als sie auf den nassen Beton treffen. In ihrem Gesicht zeichnet sich noch immer keine Regung ab.
Er steht jetzt direkt hinter ihr. Vorsichtig legt er eine Hand auf ihre Schulter. Der Stoff der olivgrünen Jacke fühlt sich feucht an. Langsam wendet sie ihm ihr Gesicht zu. In ihren Augen sieht er diese Sehnsucht. Er weiß, dass er sie gehen lassen muss. Sie kann nicht anders. Das Prasseln der Regentropfen auf dem Metalldach wird stärker. In der Ferne sind schon die weißen Lichter des herannahenden Zuges zu erkennen. Sie erhebt sich. Schultert die Tasche und greift nach dem Gitarrenkoffer. Das Geräusch der auf das Dach treffenden Wassertropfen wird nun völlig vom Dröhnen des Zuges übertönt. Pfeifend bleibt er stehen. Die Türen öffnen sich. Sie bewegt sich in Richtung der Gleise.
Er hat wieder den Tag vor Augen, als er sie zum ersten Mal sah. Der gleiche Bahnsteig, die gleiche Silhouette, doch ohne diese Sehnsucht. Sie wird ihm fehlen.
Doch er kann sie nicht glücklich machen.
Die Türen schließen sich. Die Ferne hat sie geschluckt. Einfach verschlungen.
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